Freiheit? Total retro!
- Details
- Erstellt: Mittwoch, 03. Juli 2013 09:37
- Zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 03. Juli 2013 09:37
- Veröffentlicht: Mittwoch, 03. Juli 2013 09:37
- Geschrieben von Clemens Schindler
Ein deutsches Opernhaus beschloss neulich, eine Inszenierung vom Spielplan zu nehmen, weil sich nach der Premiere ein paar Zuschauer in ärztliche Betreuung ("traumatisiert") begeben mussten. Ein führender SPD-Politiker denkt laut darüber nach, auf deutschen Autobahnen ein Tempolimit von 120 km/h einzuführen. Die Grünen legen in ihrem Parteiprogramm fest, dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz nicht länger für Fast Food gelten soll, Plastiktüten per Steuer den Verbrauchern abgewöhnt werden, das Rauchen überall verboten wird und Wildtiere nicht in den Zirkus gehören.
Klingt gut...beim ersten Hallo
Nein, es ist nicht schön, wenn die wenigen "Kulturbürger", die es in diesem Land noch gibt, im Opernhaus einen Nervenzusammenbruch erleiden, weil ihnen der Regisseur Unsägliches zumutet, wie sie es sehen. Ohne Zweifel wäre das Klima auf deutschen Autobahnen insgesamt noch einladender zum Trödeln und Schlafen (wenn auch nicht entspannter, schneller oder sicherer), wenn keiner mehr mit 180 Stundenkilometern fahren würde. Und vermutlich enthält auch die Hüttenkäse-Sprossen-Dinkel-Stulle mehr verdauungsfreundliche Ballaststoffe als der Cheeseburger bei der Restaurant-Kette mit dem goldenen "M" oder der dem großen "B". Für alle der angeführten Entscheidungen, Überlegungen und Vorhaben aus den letzten Wochen und Monaten lassen sich vernünftige Gründe nennen, und ich bin die Letzte, die sich nicht freut, wenn Menschen sich von der Vernunft leiten lassen. Was gibt es Humaneres, als sowohl mit sich selbst als auch mit allen anderen Geschöpfen behutsam umzugehen? Dennoch erfasst mich ein wachsendes Grauen, wenn ich mir anschaue, in welchem Tempo wir dabei sind, uns immer neue Gitterstäbe um unsere Existenz zu bauen. Die Wohlmeinenden, die uns in diesen Tagen einem Vernunftregime unterwerfen wollen, dass man denken könnte, Immanuel Kant sei im Gewand des Real-Robespierre auf Erden zurückgekehrt, werden dieses Bild natürlich strikt zurückweisen. In Zeiten, in denen alles barrierefrei zu sein hat, niemand ausgegrenzt, dafür jeder "abgeholt" werden soll, wäre es opportuner, von "Impulsen zur freiwilligen Selbstkontrolle" zu sprechen. Der aktuelle Tugendterror vermeidet die klirrenden Töne, erstickt die Vielfalt. Er kommt auf Samtpfoten daher. Das macht ihn umso unheimlicher.
Mit gutem Beispiel voran
Bereits vor fünf Jahren, als die EU beschloss, den blauen Dunst aus dem öffentlich-geschlossenen Raum und die gute alte Glühbirne aus gleich jedem Raum zu verbannen, während der Körner kauende, nordic-walkende, sich stets korrekt ausdrückende Abstinenzler begann, zum Idealbild des europäischen Bürgers aufzusteigen, befiel mich die Furcht, auf meine mittelalten Tage nun doch noch in jenem Kindergarten zu landen, den meine Eltern mir in jungen Jahren zwar nicht erspart hatten, aber ihn zweifellos nicht als Idealbild einer Gesellschaft für mich skizzierten. Denn die Dialektik der Aufklärung, wie wir sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts erleben ist ein Paradoxon erster Güte: Einerseits soll die Vernunft in allen Lebensbereichen durchgesetzt werden, andererseits trauen mir die Hüter des kategorischen Imperativs immer weniger zu, dass ich selbst über die Urteilskraft verfüge, die Grenzen zu ziehen, innerhalb derer ich mich gemäß dieses Imperativs verhalte und außerhalb derer ich meinen Launen freien Lauf lassen darf und kann ohne andere in der eben selben Tätigkeit zu behindern oder stören, oder gar gegen gute Gesetze, wie das Fahren unter Alkoholeinfluss, verstoße. Darüber reden wir hier freilich nicht. Gesetze, welche die geltende Moral unserer Gesellschaft manifestieren und den Einzelnen schützen. Ich möchte hier nicht für Anarchie und das Recht des Stärkeren plädieren. Vielmehr für Freiheit in Verantwortung, für Bewusstsein über das eigene Sein und für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Schließlich macht uns gerade das zu Menschen. Und wenn es jemand schick findet, in einem Hundekostüm durch dien Stadt zu laufen...von mir aus. Kritisch wird es, wenn jemand sich das Recht nimmt, zu sagen das eben das richtig und wichtig ist und mich fortan zwingt dies ebenfalls zu tun. Was Kant sich nicht hätte träumen lassen - die allgemeine Rationalisierung befördert die allgemeine Entmündigung.
Das Leben als Friede-Freude-Eierkuchen?
Die Welt ist voller Tücken und Kanten, an denen man sich stoßen kann. Schaffen wir eine bessere Welt, indem wir versuchen, alle Tücken und Kanten abzuschleifen oder zumindest mit Schaumstoff zu polstern? Oder sind wir vielmehr dabei, unsere Welt in eine gewaltige Hüpfburg (Kindergarten) zu verwandeln, in die zudem nur Eintreten darf, wer bereit ist, alle spitzen Gegenstände ab- und einen Kopfschutz anzulegen? Von Anbeginn bestand der Prozess der Zivilisation darin, nicht bloß die raue, feindliche, äußere Natur zu domestizieren, sondern ebenso die innere. Und schon immer war jeder Zugewinn an sozialer, gesellschaftlicher Sicherheit, den die inneren Domestizierungen mit sich brachten, ein Verlust an Freiheit. Die Menschheitskunst besteht darin, Sicherheit und Freiheit in eine vernünftige Balance zu bringen. Menschen können zerbrechen, weil sie mit ihrem eigenen Leben auf Kriegsfuß stehen oder weil sie von anderen beleidigt, ausgestoßen oder gedemütigt werden. Menschen können aber auch lebendigen Leibes erstarren, weil ihnen von allen Seiten eingeimpft wird, sich selbst und den Rest der Welt wie rohe Eier zu behandeln. Wenn Rücksichtnahme jedoch zum totalitären Konzept erhoben wird, das jede Lebensregung kontrollieren soll, geht es nicht nur der Waghalsigkeit, sondern mit ihr der Vitalität, Spontanität, Kreativität und der Freiheit an den Kragen. Mündigkeit heißt, einschätzen zu können, was ich mir selbst und meiner Umwelt zumuten darf und kann. Leben heißt, mich von Verletzungen nicht niederstrecken zu lassen. Wie soll ich beides erlernen, wenn unsere Gesellschaft zur allgegenwärtigen Gouvernante wird, die fein darauf achtgibt, dass keiner ihrer Schutzbefohlenen über die Stränge schlägt? Man kann sein Leben zu Tode verschwenden, man kann andere zu Tode schinden, sich zu Tode arbeiten. Wir sind hingegen dabei, uns zu Tode zu schonen, besser gesagt uns zu Tode schonen zu lassen. Selbst denken, handeln und für jenes Handeln Verantwortung zu übernehmen ist im Moment ungefähr so sexy und angesagt wie beige Popeline-Jacken und Prinz-Heinrich-Mützen zu tragen. Nämlich gar nicht. Warum auch!? Nimmt uns doch der Staat einfach alles ab und lebt es sich doch so herrlich in einem System, in welchem man niemand Rechenschaft schuldig ist, außer man eckt mit dem System selbst an. In diesem Sinne,
mit eckigen Grüßen
Euer Bademeister